Im Gespräch mit Miriam Sommer von der TelefonSeelsorge Ulm/Neu-Ulm
Es gibt Initiativen, die sind so wertvoll, dass ich bei einer Anfrage keine Sekunde zögere - so auch die ökumenische TelefonSeelsorge in Ulm/Neu-Ulm.
18 Millionen Anrufe gehen deutschlandweit jedes Jahr bei der TelefonSeelsorge ein, von Menschen, die sich Hilfe holen möchten. Auch in Ulm gibt es einen Standort der TelefonSeelsorge unter der Leitung von Claudia Köpf und Miriam Sommer. Ich habe Miriam zum Interview in den Räumlichkeiten in Ulm getroffen.
Bild: Miriam Sommer von der TelefonSeelsorge Ulm/Neu-Ulm
*Triggerwarnung: Im folgenden Beitrag wird Suizid thematisiert, was beunruhigend wirken kann. Bitte entscheide selbst, ob du den Beitrag lesen möchtest.
Hallo Miriam, eure Adresse soll nicht nach außen kommuniziert werden, richtig?
Hallo Katrin, schön, dass du da bist. Genau, unser Standort in Ulm ist geheim - zum Schutz unserer 100 Mitarbeitenden, die hier rund um die Uhr in Wechselschichten ehrenamtlich arbeiten.
Bild: In den Räumlichkeiten der Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm
Fangen wir von vorne an - was ist die TelefonSeelsorge genau?
Die TelefonSeelsorge Deutschland bietet allen Menschen Unterstützung an, die einsam sind oder trauern, eine herausfordernde Situation erleben oder von Suizidgedanken gequält werden - telefonisch, per Mail oder Chat. Das Ganze ist anonym, datengeschützt und kostenfrei. Finanziert werden wir zu 2/3 von den Kirchen und zu 1/3 von Kommunen, Landkreisen und Spenden.
Wie und wann kann man euch erreichen?
Unter der 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 rund um die Uhr. Tagsüber haben wir 1 Telefon besetzt, am Abend sind 2 Mitarbeitende im Einsatz, um Anrufe entgegen zu nehmen. Außerdem gibt es die Möglichkeit unter https://online.telefonseelsorge.de/ über Chat oder Mail Kontakt zu uns aufzunehmen.
Mit wem spreche ich, wenn ich bei euch anrufe?
Wir haben 100 engagierte Ehrenamtliche, die die Telefondienste machen. Unsere Mitarbeitenden sind von Anfang 20 bis 85 Jahre alt und haben unterschiedlichste berufliche Backgrounds. Der Zufall entscheidet, wer gerade an der anderen Leitung sitzt und abhebt.
Bild: Eine Mitarbeitende der TelefonSeelsorge Ulm/Neu-Ulm während ihrer Schicht
Müssen die Mitarbeitenden keine pädagogische/psychologische Ausbildung vorweisen für die Aufgabe bei der TelefonSeelsorge?
Nein, das müssen sie nicht. Natürlich werden unsere Mitarbeitenden von Claudia und mir ein Jahr lang vor ihrem ersten Einsatz geschult und laufend betreut. Claudia ist Sozialpädagogin, ich bin Psychologin, wir beide haben systemische Zusatzqualifikationen. Inhalte der Schulung sind für die Seelsorge relevante Bereiche, wie psychologische Gesprächsführung, aktives Zuhören und psychische Krankheitsbilder.
Bei der TelefonSeelsorge geht es aber nicht darum, eine psychologische Betreuung anzubieten, sondern in einem Moment, in dem eine Person dringend Hilfe braucht, zu reden - auf Augenhöhe. Wir haben Kontakte zu anderen Hilfsstellen, wie Frauenberatungsstellen oder psychiatrischen Kliniken, an die wir verweisen können.
Aus welchen Gründen rufen die meisten Leute bei euch an?
Die Themen sind unterschiedlich. Sehr häufig rufen Menschen bei uns an, die bereits eine diagnostizierte psychische Erkrankung haben, sich aber in keiner akuten Notsituation befinden. Sie müssen zum Beispiel die Wartezeit bis zum Therapiestart überbrücken oder sind bereits angebunden, brauchen aber einen “kleinen Schups” morgens, bevor sie in den Tag starten. Da kann es dann sein, dass eine Person anruft, einfach, um uns mitzuteilen, dass sie es „heute Morgen geschafft hat, aus dem Bett zu kommen“. Wir überlegen uns dann gemeinsam, was an dem Tag ansteht und welche positiven Dinge in den Tagesablauf eingebaut werden können.
Lebenskrisen, Probleme in der Familie, Einsamkeit oder emotionale Erschöpfung sind ebenfalls Gründe, weshalb Menschen bei uns anrufen.
Auffallend ist, dass immer mehr jüngere Menschen bei uns anrufen oder unser Mail-/ und Chatangebot nutzen. Schreiben ist oft leichter und sortiert das eigene Gedankenchaos schonmal. Bei Jugendlichen ist die Suizidalitätsrate tatsächlich besonders hoch. Der Druck durch Social Media, Mobbing und die (vermeintlich) lebensweisenden Entscheidungen, wie die Wahl von Ausbildung/Studium, müssen gefällt werden. Differenzen mit den Eltern oder Freunden und Hormonschwankungen kommen dazu. Das kann einen jungen Menschen schon aus der Bahn werfen. Corona hat auch zu einer Instabilität und Unsicherheit beigetragen - die Anzahl der Anrufe hat sich seit Corona tatsächlich verdoppelt.
Wir gehen deshalb auch direkt mit unserem Lastenrad an Schulen, um über unser Angebot zu informieren und den Kontakt zu Schulsozialarbeitern aufzubauen.
Was ist euch besonders wichtig zu vermitteln?
"Es ist ok, dass es nicht ok ist." Das Leben ist ein Auf und Ab, auch wenn auf Social Media oft alles rosig scheint und man das Gefühl hat, man sollte ständig „performen“. Wenn man merkt, dass man alleine nicht mehr weiterkommt, dann ist es wichtig und gut, sich Hilfe zu suchen, um aus dem Gedankenchaos auszubrechen und wieder handlungsfähig zu werden. Dafür sind wir gerne auch die erste Anlaufstelle.



Ist es nicht schwierig loszulassen nach einem Gespräch und nicht mitzubekommen, wie es bei der Person weitergeht?
Das ist Teil des Konzepts und trägt zur Anonymität bei – ein oft entscheidender Grund, weshalb die Leute bei uns anrufen. Viele Anrufer*innen fragen zu Beginn: "Wird das auch wirklich nicht aufgezeichnet?" Vertrauen hat oberste Priorität bei uns - weder die Person, die anruft, noch unsere Mitarbeitenden melden sich mit Namen.
Und klar, manchmal fällt es sehr schwer, ein Gespräch zu einem guten Ende zu bringen, vor allem, wenn die Person in einer sehr tiefen Krise steckt und wir nicht sicher sind, ob sie sich etwas antun könnte. Das kommt glücklicherweise selten vor.
Was macht ihr in so einem Fall?
Wir dürfen erst handeln, d.h. die Polizei rufen, wenn eine akute Gefährdung besteht, z.B. wenn ein Amoklauf konkret angekündigt wird oder eine Person aktiv bittet, den Notruf zu wählen.
Hut ab vor euren Leuten…
Ja, wir haben ein großartiges Team hier und wir fangen uns gegenseitig auf nach den Gesprächen - untereinander dürfen wir darüber selbstverständlich sprechen und das ist auch sehr wichtig, um die Geschichten, die wir hören, zu verarbeiten. Wenn ein Anruf einen persönlich zu sehr mitnimmt, dann ist es auch absolut legitim zu sagen: "Rufen Sie bitte in einer Stunde nochmal an, da haben wir Schichtwechsel. Das Thema nimmt mich aus persönlichen Gründen sehr mit."
Was am Ende einer Schicht bleibt, ist eine große Dankbarkeit, die durch die Nähe und die vielen – auch wertvollen Gespräche entsteht.
Du hast Interesse als Ehrenamtliche*r bei der TelefonSeelsorge zu unterstützen?
Aktuell läuft das Auswahlverfahren für die nächste Ausbildung ab Januar 2026. Bei Interesse kannst du gerne eine Mail an info@telefonseelsorge-ulm.de schicken.
Du möchtest das Angebot der TelefonSeelsorge gerne für dich nutzen oder jemandem weiterempfehlen?
Kostenlose Hotline TelefonSeelsorge: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222
Kostenlose Chat- und Mailberatung: https://online.telefonseelsorge.de/
App Krisenkompass, erhältich im App-Store oder Google-Play-Store